Neulich schrieb mir ein Freund, mit dem mich eine langjährige, tiefe Freundschaft verbindet. Einer von denen, bei denen man nicht regelmäßig voneinander hört, aber sofort wieder anknüpft. Er erzählte, wie schwer es ihm falle, mit dem Schreiben zu beginnen – obwohl die Gedanken längst da sind. Doch sobald er sich hinsetzt, verwandelt sich ein einfacher Impuls in einen überhöhten Anspruch: ein kleiner Gedanke, der plötzlich, wie er es sagt, der Anfang eines „zweiten Zauberbergs“ sein soll. Und schon versiegt alles.
Ich konnte das so gut verstehen, dass es mich beim Lesen fast körperlich berührte. Vielleicht, weil ich diesen Anspruch selbst lange mit mir herumgetragen habe, nicht nur im Zusammenhang mit den Schreiben, sondern mit so vielen Vorhaben in meinem Leben. Vielleicht, weil ich inzwischen weiß, wie viel Freiheit darin liegt, ihn nicht mehr ganz so ernst zu nehmen.
Ich antwortete ihm – und merkte, während ich schrieb, dass meine Worte nicht nur ihm galten, sondern auch mir selbst. Ich schreibe nicht, weil ich über besonders viel Muße verfüge. Im Gegenteil: Ich schreibe, weil ich sonst nicht weiß, wohin mit allem. Schreiben ist für mich ein innerer Klärungsraum. Im Gespräch fühle ich mich oft missverstanden – oder ich verstehe mich selbst nicht. Beim Schreiben zwinge ich mich, Worte zu finden, die dem entsprechen, was in mir wirklich gemeint ist. Schreiben ist ein Versuch der Selbstklärung, kein literarischer Ehrgeiz.
Da ich jedoch ein Perfektionist bin, würde ich mich leicht in Details verlieren. Der Feinschliff wäre ein Fass ohne Boden – und die Freude daran wäre schnell dahin. Deshalb schreibe ich im Dialog. Zuerst entsteht ein Rohtext, tastend und unfertig. Im zweiten Schritt überlasse ich diesen Entwurf meinem „maschinellen Lektor“, der ordnet, poliert, rhythmisiert. Die KI ist für mich wie ein geduldiger, unermüdlicher Helfer, der niemals sagt: „Können wir das morgen machen?“. Erst danach überarbeite ich den Text erneut, um ihm durchgängig meinen eigenen Schreibstil zu geben.
Mein Freund sprach in seiner Nachricht vom fehlenden roten Faden. Aber meine Meinung ist: Der rote Faden entsteht erst im Schreiben. Er ist nie vorher da. Wir finden ihn nicht – wir weben ihn. Stück für Stück, Satz für Satz.
Ich musste dabei an ein Buch denken, das mich vor Jahren nachhaltig beeindruckt hat: Mario Vargas Llosas „Briefe an einen jungen Schriftsteller“. Llosa beschreibt das Schreiben nicht als Gabe oder Kunstgriff, sondern als ein inneres Bedürfnis – einen hartnäckigen Drang, der sich nicht durch Schweigen beruhigt. Schreiben beginnt, so deutet er an, nicht im fertigen Werk, sondern im Bedürfnis, dem eigenen Inneren eine Form zu geben, die man im Alltag kaum findet. (Etwas Ähnliches hatte auch Rilke gesagt, als er empfahl, „in sich zu gehen“ und nach dem Grund zu fragen, der einen zum Schreiben treibt.)
Und ein Gedanke aus diesem Buch blieb mir besonders: dass ein Schriftsteller nur dann authentisch ist, wenn er über das schreibt, was ihn im Innersten bewegt. Nicht über Themen, die klug gewählt wirken oder Erfolg versprechen, sondern über die, die von selbst an die Oberfläche drängen. Kreativität entsteht dort, wo man sich den eigenen Gespenstern stellt – jenen Fragen, Ängsten und Erinnerungen, die sich wie eine Notwendigkeit in das Bewusstsein schieben. Wer versucht, dem auszuweichen und nur das schreibt, was gefällig klingt, verliert die eigene Stimme. Wirkliches Schreiben beginnt dort, wo man zulässt, was in den Eingeweiden rumort.
Diese Vorstellung begleitet mich bis heute: Nicht das fertige Werk zählt, sondern der Mut, überhaupt anzufangen. Wir alle kennen die Blockade, die entsteht, wenn der Anspruch größer ist als der Mut, unvollkommen zu beginnen. Wir wollen etwas Ganzes erschaffen, bevor wir das Fragment überhaupt zugelassen haben. Wir wollen Bedeutung, bevor wir überhaupt gesprochen haben.
Dabei beginnt alles mit etwas viel Einfacherem: dem ersten Satz, der noch nicht weiß, wohin er gehört. Dem Gedanken, der sich nicht rechtfertigen muss. Der Erlaubnis, unvollkommen zu sein.
Als ich meinem Freund all dies schrieb, hoffte ich insgeheim auf einen weiteren Austausch über das Schreiben selbst. Doch seine Antwort blieb knapp – ein paar liebe Worte und die Frage, ob wir uns nun bald sehen. Keine langen Reflexionen, kein Weiterdenken.
Zunächst irritierte mich das. Vielleicht war es übermütig von mir anzunehmen, meine Gedanken würden ihm Halt geben oder ihn weiterbringen. Manchmal liegt darin – ohne böse Absicht – bereits etwas Übergriffiges: der Wunsch, einem anderen Menschen einen Weg zu zeigen, für den er vielleicht gerade keine Schritte hat. Mancher liebevoll gemeinter Rat klingt im Ohr des anderen wie eine Zumutung.
Ich erinnerte mich daran, dass Nähe nicht nur im gesprochenen Wort entsteht. In der Philosophie findet sich der Gedanke, dass Begegnung nicht immer im Gespräch geschieht, sondern manchmal gerade im Schweigen: darin, dem anderen sein So-Sein zu lassen, ohne ihn in die eigenen Gedanken hineinzuziehen. Wäre es nicht genug gewesen, wenn ich ihm nur zugehört hätte, ohne Ratschläge?
Und vielleicht war auch seine Kürze kein Desinteresse oder Sich-bedrängt-Fühlen, Jeder Mensch hat sein eigenes inneres Wetter – Tage der Offenheit und Tage der Verschlossenheit. Wer selbst ringt, kann nicht immer die Tiefe aufgreifen, die man von ihm kennt.
In solchen Momenten begreife ich, dass Freundschaft viele Sprachen kennt. Manchmal zeigt sie sich in langen Gesprächen, in geteilten Gedanken, in Nächten voller Worte. Und manchmal ist sie nur eine unaufdringliche Geste der Verbundenheit: „Wann sehen wir uns?“
Kommentar hinzufügen
Kommentare