Die Distanz zwischen Entscheidung und Konsequenz

Veröffentlicht am 15. Dezember 2025 um 19:18

Am vergangenen Wochenende fand das Adventskonzert der Schule meiner Kinder statt. Schülerinnen und Schüler der Unter- und Mittelstufe sangen Weihnachtslieder. Klare Stimmen, noch nicht gebrochen. Ein wenig Aufregung, ein wenig Stolz. Dieses besondere Schweigen im Raum, das entsteht, wenn Erwachsene für einen Moment wirklich zuhören.

Während ich dort saß, veränderte sich plötzlich meine festliche Stimmung. Stattdessen überfiel mich eine Vision, so klar und verstörend, dass sie mich erschreckte.

Ich sah die Jungen nicht mehr nur als Kinder. Ich sah sie als Erwachsene. In Uniform. Bewaffnet. Einige in Schützengräben, andere verwundet, manche tot.
Ich sah sie töten – und ich sah, dass die Menschen, die sie töteten, einst ebensolche Kinder gewesen waren. Vielleicht hatten auch sie einmal in einem Schulchor gestanden. Vielleicht dieselben Lieder gesungen.

Diese Bilder drängten sich mir auf, ungebeten, ungeschönt. Ich spürte, wie die Tränen in mir aufstiegen, ohne nach außen zu treten.

Wir leben wieder in einer Zeit, in der alltäglich über das Undenkbare gesprochen wird. Über Krieg und Wehrpflicht.

Mein Schmerz kam nicht aus Angst um mich selbst. Sondern aus einem Mitgefühl, das sich nicht mehr auf die Gegenwart begrenzen ließ.
Aus dem Erkennen einer Kontinuität, die wir im Alltag sorgfältig verdecken:  Dass zwischen dem singenden Kind und dem bewaffneten Erwachsenen keine Zäsur liegt, sondern nur Zeit – und politische Entscheidungen.

Kriege leben davon, diese Linie zu unterbrechen. Sie sprechen von Sicherheit, Interessen, Abschreckung, Verantwortung.
Sie operieren mit Begriffen, nicht mit Biografien. Sie brauchen Distanz: zwischen Entscheidung und Konsequenz, zwischen Ziel und Mittel, zwischen Kind und Soldat.

In diesem Konzert war diese Distanz für einen Moment aufgehoben. Die Kinder waren nicht „zukünftige Generation“. Sie waren einfach da.
Unverrechenbar. Nicht austauschbar. Nicht verfügbar.

Was mich erschüttert, ist nicht nur der Gedanke an Krieg. Es ist die Leichtigkeit, mit der wir wieder beginnen, ihn zu denken.
Wie selbstverständlich politische und wirtschaftliche Logiken über Eskalation sprechen – als ginge es um abstrakte Größen, nicht um Körper. Nicht um Leben. Nicht um diese Stimmen.

Ich will das nicht akzeptieren.

Aber ich weiß noch nicht, was daraus folgt. Ich weiß nicht, welche Handlung angemessen ist, welche Form Widerstand annehmen kann, ohne selbst unredlich zu werden. Aber ich weiß, dass es einen Punkt gibt, an dem inneres Einverständnis endet.

Vielleicht liegt dort ein Anfang des Widerstands.
Keine großen Gesten. Keine Parolen. Sondern die Weigerung, bestimmte Trennungen mitzumachen.
Die Trennung zwischen Gegenwart und Zukunft.
Zwischen Kindheit und politischer Zweckmäßigkeit.
Zwischen Mensch und Ressource.

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