Ein Rettungswagen stand in der Straße. Blaulicht in der Dämmerung, ein kurzer Schock – die alte Nachbarin, dachte ich.
Über neunzig, dement, längst abgewandt von der Welt, doch freundlich, milde, meist heiter in ihrer Entrücktheit.
Doch der Wagen hielt ein Haus weiter.
Gestern las ich die Anzeige.
Mitte fünfzig, zwei Kinder. Er war der Fels der Familie.
Ich frage nicht mehr nach dem "Warum".
Ich habe längst verstanden, dass es darauf keine Antwort gibt.
Aber die Empfindung der Ungerechtigkeit bleibt – nicht als Anklage, sondern als Schmerz darüber, dass Leben so ungleich verteilt scheint.
Natürlich weiß ich, dass wir auf vieles Einfluss haben – auf unsere Gesundheit, unsere Lebensweise, auf manches Schicksal sogar. Und dass dieser Einfluss ungleich verteilt ist: wer in Wohlstand lebt, kann sich schützen; wer im Krieg, in Armut oder Gewalt aufwächst, hat kaum eine Wahl. Das ist die Ungerechtigkeit der Gesellschaft – über die ich an anderer Stelle auch schreibe, die wir vielleicht ändern können.
Doch der Tod gehört nicht zu dieser Kategorie. Er folgt keiner sozialen Logik, keiner Ursache, keinem Verdienst. Er ist die andere, unbestechliche Ebene – die, auf der alle Unterschiede verschwinden. Der Tod ist blind. Er sieht nichts, erkennt nichts. Er unterscheidet nicht zwischen alt und jung, zwischen noch nicht gelebt und schon müde geworden.
In meiner Empörung über die vermeintliche Ungerechtigkeit erscheint er mir wie ein Amokläufer, der in eine Menge schießt – aus der völligen Abwesenheit von Blick und Bewusstsein. Oder wie ein Soldat, der aus großer Distanz eine Bombe abwirft, ohne das Gesicht dessen zu sehen, den sie trifft.
Doch nüchtern betrachtet ist der Mähdrescher wohl das passendere, das neue Bild des Sensenmannes – das alte Symbol in moderner Gestalt.
Auch er fährt unbeirrt seine Bahn, unterscheidet nicht zwischen Halm und Halm, und was in seinem Weg steht, wird fallen.
Vielleicht liegt in dem, was wir als Ungerechtigkeit empfinden, am Ende die vollkommenste, aber bitterste Form der Gerechtigkeit – weil sie keinen Unterschied kennt, weil der Tod nicht wählt. Er folgt keiner Moral, keinem Verdienst, keinem Plan.
Er ist gleichgültig – und eben darum gleich. Seine Blindheit, die uns so empört, ist zugleich das Einzige, was alle Lebewesen verbindet.
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