Manchmal, wenn ich einen Essay schreibe, passiert etwas Beunruhigendes.
Ein Gedanke taucht auf — klar, kraftvoll, ungeschönt — und kaum ist er da, beginne ich, ihn zu glätten. Nicht, weil er falsch wäre. Nicht, weil ich ihn verwerfen möchte. Sondern weil ich ahne, wie er wirken könnte, wenn er den Raum verlässt, in dem er entstanden ist.
Ich höre meine eigenen Worte durch die Ohren eines imaginären Publikums. Ich passe sie an. Ich entschärfe sie. Ich mache sie handzahm.
Und in diesen Momenten denke ich oft an den französischen Philosophen Michel Foucault. Er beschrieb eine Form der Macht, die nicht mehr auf Strafen, Druck oder Verboten beruht, sondern auf Überwachung — oder genauer: auf der Möglichkeit der Überwachung. Er nannte das das Panoptikum.
Foucault greift die Architektur eines kreisförmigen Gefängnisses auf:
Zellen am Rand, ein hoher Turm in der Mitte. Die Gefangenen sehen den Wächter nicht. Sie wissen nicht, ob er gerade hinschaut.
Und genau deshalb benehmen sie sich so, als würde er immer hinschauen. Die Überwachung muss nicht stattfinden. Die bloße Möglichkeit genügt.
Damit wird Macht unsichtbar — und gerade dadurch wirksam.
Der Mensch übernimmt die Überwachung selbst.
Er kontrolliert sich, bevor jemand ihn kontrollieren müsste.
Und hier erschrecke ich, wie sehr ich das kenne.
Nicht, weil ich in einem Gefängnis säße — das tue ich nicht — sondern weil moderne Gesellschaften über feinere Instrumente verfügen als Mauern und Strafen. Es reicht heute, dass wir wissen oder ahnen, beobachtet zu sein, um uns anzupassen. Und wir wissen, dass wir überall auf die eine oder andere Weise beobachtet werden.
Psychologisch nennt man das den Hawthorne-Effekt:
Menschen verändern ihr Verhalten allein aufgrund der Möglichkeit, dass jemand hinsieht. Wir spielen Rollen, noch bevor jemand den Vorhang hebt.
Foucault würde sagen:
Die äußere Macht ist längst zur inneren geworden. Wir tragen die Normen in uns weiter, wir überwachen uns selbst, wir reduzieren unsere eigenen Möglichkeiten, um nicht auszubrechen aus der unsichtbaren Grenze des Erwartbaren.
Genau hier merke ich, wie viele Ebenen dieses Thema hat.
In meinen eigenen Notizen schreibe ich immer wieder über Wahrnehmung, über den Übergang von der Welt in die Innenwelt, über den Moment, in dem reine Information zu einer Meinung wird, über Filtersysteme, die aus Erfahrungen, Verletzungen, Haltung und Angst bestehen.
Was, wenn Selbstzensur nur ein weiterer Filter ist — kaum unterscheidbar von Vernunft, Verantwortungsgefühl oder Rücksichtnahme?
Was, wenn ich meinen Gedanken nicht traue, weil ich nicht dem Gedanken misstraue, sondern dem möglichen Urteil über ihn?
Der antike Philosoph und Stoiker Epiktet schrieb:
„Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen über die Dinge.“
Vielleicht müsste man heute hinzufügen:
„… und die Meinungen, von denen sie glauben, dass andere sie haben könnten.“
Ich frage mich dann:
Wie viele Gedanken sterben in uns, bevor sie überhaupt geboren werden?
Wie viele Einsichten bleiben unausgesprochen, weil wir sie innerlich bereits sozialverträglich zurechtgestutzt haben?
Wie viele Haltungen geben wir auf, bevor wir sie jemals gelebt hätten?
Und was macht das mit unserer Freiheit?
Ich habe in meinen Notizen bereits darüber geschrieben, dass Freiheit nicht jene ist, die man uns gewährt, sondern jene, die aus uns selbst kommt. Dass Freiheit die Voraussetzung für Neugier ist, und Neugier das Gegenteil von Angst.
Selbstzensur aber ist eine Form der Angst, die sich als Vernunft verkleidet.
Sie sagt: „Sag es anders.“
Oder noch raffinierter: „Sag es gar nicht erst — das spart Ärger.“
Vielleicht ist genau das die größte Gefahr:
Dass Kontrolle nicht mehr als Kontrolle erscheint, sondern als Vorsicht, Takt, Höflichkeit, Verantwortungsbewusstsein, als Vernunft. Dass wir glauben, redlich zu sein, während wir in Wahrheit nur angepasst sind.
Und falls ich irgendwann einen Gedanken denke, der so glatt geworden ist, dass er niemanden mehr stört, niemanden mehr irritiert, niemanden mehr herausfordert, oder niemanden mehr innerlich bewegt — dann ist er vielleicht kein Gedanke mehr, sondern nur noch die Schattenprojektion eines möglichen Konsenses.
Manchmal frage ich mich, ob ich mich selbst beschwichtige, um Konflikte zu vermeiden — oder um mir einzureden, dass ich immer noch frei bin.
Dennoch, eines weiß ich sicher über mich:
Ich möchte immer respektvoll sein. Ich möchte niemanden verletzen, niemanden herabsetzen, niemanden überfahren und das soll sich auch nicht ändern. Doch kann ich dann überhaupt unbequem sein?
So unbequem wie der Philosoph Theodor W. Adorno, dessen Kritik nie auf Harmonie zielte?
Oder wie Sokrates, der seine Mitbürger mit Fragen konfrontierte, die sie aufwühlten, irritierten, manchmal empörten?
Ich glaube: Ja. Aber es ist ein anderer Stil von Unbequemkeit.
Auch Adorno schrieb scharf, weil seine Kritik aus Redlichkeit kam, nicht aus Verachtung.
Und Sokrates stellte unbequeme Fragen, weil er die Menschen ernst nahm, nicht weil er sie demütigen wollte.
Vielleicht ist die Form von Unbequemsein, die ich anstrebe, eine die aus Respekt kommt — aus dem Vertrauen, dass Menschen einen Gedanken aushalten können, wenn man sie ihnen auf Augenhöhe zumutet. Eine Unbequemlichkeit, die nicht zerstört, sondern klärt. Eine, die nicht provoziert, sondern freilegt. Eine, die nicht spaltet, sondern vertieft und verbindet.
Ist das der Ausweg in einer Haltung, die ich selbst noch übe?
Zu denken, zu schreiben, zu sprechen, als wäre niemand im Panoptikum. Als würde niemand zuschauen. Als könnte kein imaginärer Blick meine Gedanken korrigieren?
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