Ich habe in den letzten Tagen viel über die Wehrpflicht nachgedacht.
Nicht über Paragrafen, nicht über Wehrgerechtigkeit, nicht über geopolitische Strategien. Sondern über etwas anderes: über Menschen, über Erinnerungen, über das, was ein Krieg in einer Gesellschaft hinterlässt.
Vielleicht liegt es daran, dass ich bei den aktuellen Diskussionen an meine beiden Großväter denken musste. Männer, die den Krieg überlebt hatten – äußerlich zumindest.
Innerlich trugen sie Narben, die sich nie wieder schlossen. Sie sprachen selten darüber. Vielleicht, weil Worte dafür nicht reichen. Vielleicht, weil das Schweigen der einzige Ort war, an dem diese Erinnerungen erträglich wurden. Aber man spürte es trotzdem: in ihrer Härte, die eigentlich Schutz war. In ihrem Schweigen, das eigentlich Angst war. In ihrer Rastlosigkeit, ihrem Misstrauen, ihrem plötzlichen Verstummen, wenn das Gespräch zu nah an etwas rührte, das sich nicht berühren ließ.
Sie waren Teil einer ganzen Generation, die traumatisiert war – kollektiv, tief und oft unsichtbar. Viele trugen diesen Schmerz mit einer Art pflichtbewusster Stille durchs Leben.
Und doch fand dieser Schmerz seinen Weg in die Familien, in die Kinder und Enkel, in die Art, wie man Nähe empfindet, wie man Angst spürt, wie man schweigt. Trauma verschwindet nicht. Es verändert nur die Form.
Und genau das macht die aktuelle Diskussion über eine erneute Wehrpflicht so schwer erträglich. Es wird gesprochen, als wäre dies eine administrative Frage. Als ginge es um Zahlen, Strukturen, Sicherheit. Aber kaum jemand stellt die Frage, die eigentlich im Raum steht: Sind wir bereit, wieder eine Generation junger Menschen seelisch zu verletzen? Denn das wäre der Preis. So ehrlich müssen wir sein.
Wenn ich darüber nachdenke, begegnen mir vor allem drei Probleme, die nicht organisatorischer oder strategischer Natur sind.
Der erste Gedanke berührt meine eigene Verletzlichkeit: Meine Kinder sind im wehrfähigen Alter. Und ich kann nicht akzeptieren, dass ein Staat das Recht für sich beansprucht, mein Kind zu einem materiellen Einsatzfaktor in bewaffneten Konflikten zu machen. Der Begriff „Kanonenfutter“ ist drastisch, aber er beschreibt den Mechanismus präzise: In der Logik des Militärs sind Soldat*innen Ressourcen. Menschenleben werden kalkulierbar. Dass mein Staat meine Kinder zu einem Teil dieser Kalkulation macht, widerspricht meiner Vorstellung von Elternschaft, Menschenwürde und Verantwortlichkeit.
Der zweite Gedanke weitet den Blick: Was ich meinen eigenen Kindern nicht zumuten will, möchte ich auch keinem anderen Kind zumuten. Der Staat entscheidet im Mechanismus der Wehrpflicht nicht nur über die Körper meiner Kinder, sondern über die Körper aller – auch über jene, deren Eltern vielleicht weniger Möglichkeiten, weniger Einfluss oder weniger Stimme haben. Es erscheint mir moralisch unvertretbar, jungen Erwachsenen ihren Lebensentwurf zu entreißen, weil politische Entscheidungen, geopolitische Fehler, wirtschaftliche Interessen oder Machtlogiken sie plötzlich zu bloßen Ressourcen machen.
Und schließlich gibt es noch einen dritten Gedanken, der vielleicht der grundlegendste ist: In einer zivilisierten, aufgeklärten Gesellschaft sollte niemand lernen müssen, politische Konflikte mit Waffen auszutragen. Eine Wehrpflicht bedeutet jedoch genau das. Sie bedeutet, junge Menschen auszubilden, anderen Menschen im Ernstfall Gewalt anzutun – legitimiert durch den Staat. Wir kriminalisieren Gewalt im Privaten, sanktionieren sie im Alltag, und gleichzeitig verpflichten wir junge Menschen, sie in einem bestimmten Kontext zu lernen. Ich möchte nicht, dass unschuldige Menschen in Situationen geraten, in denen sie töten müssen, um selbst zu überleben. Ich möchte nicht, dass ein Staat junge Menschen zu potenziellen Tätern macht – selbst wenn sie formal „Verteidiger“ genannt werden. Es bleibt ein Eingriff in die moralische Integrität.
Natürlich weiß ich, dass solche Gedanken schnell als überidealistische Haltung, fernab der Wirklichkeit, abgetan werden – als Naivität, als Realitätsverweigerung, als moralische Bequemlichkeit. Doch nichts davon trifft zu. Ich kenne die Argumente der Abschreckung, und ich nehme die Gefährdungen dieser Welt ernst. Aber ich bezweifle, dass Sicherheit dadurch entsteht, dass immer mehr junge Menschen darauf vorbereitet werden, im äußersten Fall zu töten. Die bloße Bereitschaft zur Gewalt ist keine Garantie für Frieden. Wir haben auf diese Weise in vielen tausend Jahren keinen dauerhaften Frieden erzielt. Und eine Gesellschaft, die ihre eigene Menschlichkeit opfert, um sich zu schützen, verliert womöglich mehr, als sie gewinnt. Pazifismus ist kein Mangel an Mut. Oft ist er die Weigerung, den einfachsten, brutalsten Weg als alternativlos zu akzeptieren.
Vielleicht ist es genau das, was Yael Deckelbaum – Musikerin, Friedensaktivistin, Feministin – in einem ihrer Konzerte meinte, als sie sagte, man könne nicht „für Frieden kämpfen“. Ein Freund von ihr habe es so ausgedrückt: „Du musst für den Frieden frieden.“ Dieser Satz klingt schlicht, ist aber radikal. Er macht deutlich, dass Ziel und Mittel nicht im Widerspruch stehen dürfen.
Denn „für Frieden kämpfen“ ist wie für die Stille schreien, für die Freiheit gehorchen, für die Ehrlichkeit lügen, für die Liebe hassen. Das gewählte Mittel widerspricht dem Ziel. Der Weg verhindert das Ankommen.
Die Einsicht liegt darin, dass Frieden nicht durch Kampf entsteht, sondern durch friedliches Handeln. Ehrlichkeit nicht durch Lügen, sondern durch Wahrhaftigkeit. Freiheit nicht durch blinden Gehorsam, sondern durch selbstverantwortetes Handeln. Das Ziel muss bereits im Mittel enthalten sein, sonst wird es verfehlt.
Wenn wir den Frieden wollen, dann müssen wir ihn nicht erkämpfen – wir müssen ihn leben.
Wenn man all diese Gedanken zusammennimmt – die Traumata unserer Großväter, die ethischen Zumutungen einer Wehrpflicht, die inneren Widersprüche eines zivilisierten Gemeinwesens und das Paradox, dass man ein Ziel nicht durch sein Gegenteil erreichen kann –, dann bleibt am Ende nur eine einzige wirklich ehrliche Frage:
Wollen wir das wirklich wieder?
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