Vom kleineren Übel und dem großen Schweigen

Veröffentlicht am 25. Dezember 2025 um 18:43

Es gibt Gedanken, die sich nicht ankündigen. Sie stellen sich nicht höflich vor, sie bitten nicht um Zustimmung.  Sie sind einfach da – und lassen sich nicht mehr abschütteln. Einer dieser Gedanken lautet:
Es gibt kein größeres Leid als den Krieg.
Dieser Satz wirkt auf den ersten Blick pathetisch, vielleicht sogar naiv. Und doch wird er schwerer, je länger man bei ihm verweilt.
Schwerer, weil er nicht bei den Toten stehen bleibt. Sondern bei denen, die überleben. Bei den Traumatisierten, den Verstummten, den innerlich Verhärteten. Bei den Kindern, die in eine Welt hineinwachsen, in der Gewalt nicht mehr Ausnahme, sondern Hintergrundrauschen ist. Krieg endet nicht, wenn Waffen schweigen.
Er zieht in Menschen ein – und bleibt dort oft ein Leben lang.

In öffentlichen Debatten wird Krieg häufig als tragisches, aber notwendiges Mittel eingeführt.  Nicht, weil man ihn gutheiße, sondern um noch größeres Leid zu verhindern. Abschreckung, Verteidigung, Stabilisierung – Worte, die Ordnung suggerieren, wo in Wahrheit Zerstörung waltet.

Diese Argumentation beruht auf einer stillen Annahme: Leid sei vergleichbar. Man könne es gegeneinander aufrechnen, minimieren, rational verwalten. Was dabei systematisch verschwindet, ist das, was sich nicht messen lässt: psychische Verwundungen, transgenerationale Traumata, der Verlust von Vertrauen in die Welt. Krieg ist kein Ereignis. Er ist ein Zustand, der sich fortschreibt.

Kaum ein Krieg entsteht im luftleeren Raum. Ihm gehen Jahre, oft Jahrzehnte politischer Spannungen, gescheiterter Diplomatie, sicherheits- und wirtschaftspolitscher Interessen voraus.
Selbstverständlich rechtfertigt dies einen gewaltsamen Angriff auf ein anderes Land weder moralisch noch völkerrechtlich– aber es widerlegt die These der völligen Grundlosigkeit. Aus einer spezifischen Konfliktkonstellation wird eine generalisierte Bedrohung konstruiert. Gerade dort wird es problematisch, wo komplexe historische Konstellationen zu einfachen Freund-Feind-Schemata verdichtet werden. Moralische Eindeutigkeit ersetzt dann Analyse.

Zu diesem Unbehagen tritt ein weiterer Gedanke, der sich nur schwer verdrängen lässt:
Es gibt Akteure, die von Krieg profitieren. Nicht unbedingt, weil sie ihn wollen – sondern weil er ökonomische Dynamiken freisetzt. Verteidigungsbudgets wachsen, Genehmigungsprozesse werden beschleunigt, industriepolitische Programme neu justiert. 
Das allein ist noch kein Skandal. Problematisch wird es dort, wo diese Effekte beginnen, den moralischen Referenzrahmen der Menschen zu verschieben. Wo Krieg nicht mehr ausschließlich als Katastrophe erscheint, sondern zugleich als wirtschaftlicher Impuls. Leid wird externalisiert, Gewinne werden internalisiert.

Früher oder später kommt sie unausweichlich: „Hast du denn eine bessere Lösung?“
Es ist eine mächtige Frage, weil sie Kritik an eine Bedingung knüpft. Wer keine vollständige Alternative liefern kann, soll schweigen. Doch diese Verschiebung ist unredlich. Nicht jede Kritik muss ein fertiges Gegenmodell bereithalten. Es genügt, zu zeigen, dass das gewählte Mittel selbst problematisch ist. Krieg ist nicht deshalb fragwürdig, weil es bessere Optionen gäbe, sondern weil er Leid systematisch produziert und vererbt. 
Vielleicht liegt das eigentliche Problem nicht darin, dass wir keine bessere Lösung haben. Sondern darin, dass wir uns zu früh auf eine schlechte festgelegt haben.

Ein Freund stellte mir einmal eine scheinbar einfache Frage: Was wäre, wenn jemand käme, meinen Garten besetzte und nicht mehr ginge? Würde ich dann nicht auch Gewalt anwenden? Die Analogie ist wirkungsvoll, weil sie das Problem radikal personalisiert. Sie appelliert an einen archaischen Impuls der Selbstverteidigung. Doch sie verfehlt Entscheidendes. In meinem Garten lebe ich in einem Rechtsstaat. Ich kann die Polizei rufen. Konflikte sind institutionell gerahmt, Gewalt ist delegiert und begrenzt. Genau das fehlt im internationalen Raum. Staaten agieren dort wie Privatpersonen in einer Welt ohne Polizei. Aber diese Abwesenheit legitimiert Gewalt nicht – sie macht sie erst so gefährlich.

Der Vergleich unterschlägt zudem etwas Unbequemes: dass Besitzverhältnisse selbst eine Geschichte haben. Vielleicht ist die eigentliche Frage nicht, ob ich meinen Garten verteidigen dürfte, sondern warum ich einen großen Garten habe und der andere nur eine kleine Wohnung. Das entschuldigt keine Grenzverletzung. Aber es verschiebt den Blick von der spontanen Rechtfertigung der Gewalt auf die tiefer liegenden Ungerechtigkeiten, aus denen sie immer wieder hervorgeht. Und manchmal ist der Konflikt nicht der des Besitzlosen, sondern der des Machtverlusts: Der andere verlor vielleicht das Nutzungsrecht an meinem Garten, das lange zustand.
Auch das rechtfertigt nichts, aber es erklärt, warum Gewalt oft aus gekränkter Ordnung entsteht, nicht aus bloßer Gier. 
Eines aber ist sicher: Wer diese Fragen ausblendet, macht Gewalt als Antwort plausibel – und hält sie zugleich für alternativlos.

Man könnte mir auch entgegenhalten, dass ich selbst nie einen Krieg erlebt habe. Und formal stimmt das. Aber diese Feststellung verkennt, dass Erfahrung nicht erst dort beginnt, wo Bomben fallen.
Ich bin mit Menschen aufgewachsen, in denen der Krieg nie ganz aufgehört hat. Ich habe als Kind sehr genau zugehört – meinen Großeltern, insbesondere meiner Großmutter. Kinder tun das, wenn man sie lässt. Sie hören nicht selektiv, sie filtern nicht, sie relativieren nicht. Sie spüren, wo etwas nicht heilt. Ich hörte nicht nur ihre Worte über das Erlebte, sondern das, was zwischen den Worten blieb. Die Vorsicht in ihren Gesten, die Müdigkeit gegenüber großen Erzählungen, die Selbstverständlichkeit, mit der sie wusste, dass Gewalt nichts löst, sondern weiterreicht.

Mein Pazifismus ist deshalb keine abstrakte Überzeugung, keine politische Pose. Er ist die Folge eines frühen, aufmerksamen Zuhörens. Einer stillen Zeugenschaft für etwas, das sich in einem Leben nicht abschließen lässt.

Aber diese Haltung ist in unserer Zeit nicht mehrheitsfähig, denn Sie ist nicht beruhigend.
Sie bietet keinen moralischen Sieg, keine klare Auflösung.
Sie besteht darauf, dass es Situationen gibt, in denen es keine saubere Lösung gibt. Und dass der Versuch, Tragik durch Rechenmodelle zu zähmen, selbst Teil des Problems ist.
Sie denkt nicht in Staaten, sondern in Menschen. Nicht in Strategien, sondern in Biografien. Nicht in Siegen, sondern in Narben.

Sprachfähig wird sie nicht durch Lautstärke, sondern durch Präzision. Durch das beharrliche Bestehen darauf, dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Krieg. Und dass Verantwortung nicht dort endet, wo die Waffen schweigen.

Vielleicht ist das das Unbequemste an dieser Haltung: Dass sie uns nicht erlaubt, uns moralisch zu entlasten.

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