Geleitete Kraft

Veröffentlicht am 27. Dezember 2025 um 20:12

Es gibt Tage – oder eher Momente innerhalb eines Tages –, in denen ich unversehens an meinen Körper erinnert werde. Nicht durch Schmerz oder Krankheit, sondern durch Präsenz. Durch Empfindungen, die sich in den Vordergrund schieben, den Fokus bündeln, Aufmerksamkeit fordern. Phasen, in denen der Körper nicht mehr bloß Hintergrund des Denkens ist, sondern selbst zum Thema wird.

Diese Momente sind nicht planbar. Sie lassen sich weder erzwingen noch vermeiden. Sie treten ein, ziehen den Blick nach innen und verändern für eine Zeit die Gewichte: Wahrnehmung wird dichter, Gedanken langsamer, Entscheidungen weniger selbstverständlich. Der Körper meldet sich – nicht beiläufig, sondern mit Nachdruck.

Viktor Frankl hat diesen Gedanken wie kaum ein anderer geprägt. Als österreichischer Neurologe und Psychiater jüdischer Herkunft überlebte er mehrere Konzentrationslager und verlor unter den Verbrechen der Nationalsozialisten große Teile seiner Familie, darunter auch seine junge Ehefrau. Und doch hielt er daran fest, dass selbst dort, wo Körperlichkeit, Angst und Schmerz überwältigend werden, ein innerer Spielraum bleibt. Dieser Gedanke wird ihm häufig in einem Satz zugeschrieben:

„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum.
In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.
In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“

Ob Frankl diesen Satz je in genau dieser Form formuliert hat, ist fraglich. Doch der Gedanke selbst ist zutiefst franklianisch: Freiheit nicht als Abwesenheit von Bedingtheit, sondern als Verantwortung im Innersten des Erlebens.

Erst von hier aus beginnt für mich die eigentliche Frage. Nicht, wie man solche Körperlichkeit und damit die Kraft, die in ihr wohnt vermeiden könnte, sondern wie man ihr begegnet, ohne sich von ihr bestimmen zu lassen. Wie man in ihr präsent bleibt, ohne ihr ausgeliefert zu sein. Und wie sich in diesen Phasen etwas bewahren lässt, das ich nur unzureichend benennen kann – vielleicht Würde.

Ich bin weder Hedonist noch Asket. Nicht der Lustmaximierung verpflichtet, aber auch nicht dem Verzicht. Diese Haltung ist nicht das Ergebnis einer Theorie, sondern einer Erfahrung. Meine Empfindungsfähigkeit ist ausgeprägt. Reize dringen schnell durch, bleiben nicht an der Oberfläche. Ungebremst würde mich diese Offenheit nicht freier machen, sondern abhängig.

Körperliche Empfindungen können überwältigend sein. Sie sind kein bloßer Hintergrund des Erlebens, sondern treten in den Vordergrund – vollständig, unausweichlich. Sie ziehen Aufmerksamkeit, Denken und Gegenwart auf sich, ob ich will oder nicht.

Vielleicht erklärt das, warum mich ungehaltene Emotionalität anderer Menschen manchmal unruhig macht. Nicht aus Distanz oder Urteil, sondern aus Wiedererkennen. Sie erinnert an etwas, das ich gut kenne: an eine gesteigerte Offenheit gegenüber inneren und äußeren Reizen, die mit hoher Empfindungsintensität einhergeht. An eine Möglichkeit meiner selbst, die ich nicht verleugne, sondern integriert habe.

Der Gedanke, sich nicht von der eigenen Leidenschaft versklaven zu lassen, ist älter als die moderne Psychologie. Auch Marc Aurel, römischer Kaiser und Stoiker, kehrte in seinen Selbstbetrachtungen immer wieder zu genau diesem Punkt zurück: Nicht die Affekte selbst waren das Problem, sondern die Gefahr, ihnen die Herrschaft zu überlassen.

Es gibt diesen winzigen Moment. Einen Bruchteil einer Sekunde. Zwischen Impuls und Handlung, zwischen Gefühl und Entscheidung. In ihm entscheidet sich nicht, was man fühlt – sondern wer man sein möchte.

Denn Würde zeigt sich nicht darin, nichts zu fühlen, sondern darin, sich selbst im Fühlen nicht zu verlieren. Gefühle sind wertvoll und kraftvoll; sie tragen Lebendigkeit in sich. Verantwortet werden sie zum Kern des Lebensmutes – solange sie uns nicht beherrschen.

Bewertung: 0 Sterne
0 Stimmen

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.